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Samstag, 15.10.2005, 19 Uhr
Es weihnachtet sehr!Der erste Weihnachtsgottesdienst des Jahres
Bericht in der Mainpost vom Di, 18.10.05
von Melanie Walter
Es weihnachtet sehr
Gochsheimer Gottesdienst kritisiert frühe Vermarktung des Christfestes
Gochsheim. Vor der Gochsheimer Kirche parkt ein Bus vom Bayerischen Rundfunk, im Seiteneingang stehen zwei Kameramänner. Heiko Kuschel stört das nicht. Der evangelische Pfarrer läuft Minuten, bevor der erste Weihnachtsgottesdienst Deutschlands beginnt, noch in Jeans und T-Shirt herum. Er spricht mit den Leuten von Take- Off, einer Gruppe, die Kirche anders als gewöhnlich gestaltet, letzte Dinge ab. Zwei Kinder stürmen auf ihn zu. "Papi, ich will bei dir bleiben", quengelt eine der Töchter und hängt an seinem Hals.
Ein kleines Mädchen sitzt in der dritten Bank der Kirche. Die Füße stützt es auf der Vorderbank ab, mit großen Augen beobachtet es das Gewusel um sich herum. Die Mikrofone vor der leeren Leinwand, eine Kamera hinter dem Altar, die Richtung Weihnachtsbaum blickt - ihm fällt nicht auf, dass alles anders ist als sonst. Bei den ersten Töne von "Oh, du fröhliche" reagiert kaum ein Kirchgänger. Erst als der Gesang einsetzt, macht sich Verunsicherung breit. Kaum jemand singt mit, viele schauen, was die anderen tun. Ratlos. Fragend. Darf man mitsingen? Warum lässt der Pfarrer in einem Anti-Weihnachtsgottesdienst ein Weihnachtslied anstimmen? Es ist Oktober, von Weihnachtsatmosphäre trotz geschmücktem Baum und Kerzenlicht nichts zu spüren. Der Gottesdienst von Pfarrer Kuschel dreht sich darum, dass der Weihnachtsrummel viel zu früh einsetzt. Kuschel will provozieren. Und daran
erinnern, dass es für alles eine Zeit gibt. Dass Lebkuchen im Hochsommer, Erdbeeren im Winter und bunte Eier das ganze Jahr über vieles so beliebig machen. Eigentlich ist ja egal, wann die Menschen Weihnachten » feiern, meint Heiko Kuschel in seiner Begrüßung. Den Geburtstag Jesu kennt niemand. Die Kirche hat sich auf den 25. Dezember geeinigt. Zur Wintersonnenwende.
Die Tage werden länger. Es wird heller. Dazu passt die Feier von Jesu Geburt. Bei der zweiten Strophe von "Oh, du fröhliche" singen die meisten. Dann ist der weihnachtliche Teil des Gottesdienst vorbei. Kuschel sitzt - wieder ohne Talar - in der vordersten Bank. Immer wieder schaut er in die rote Mappe auf seinem Schoß. Das Mädchen beobachtet derweil versonnen die jungen Leute von Take-Off, die vorne sitzen. Nicht nur nachdenklich, auch lustig soll der Gottesdienst sein. Eine Strandszene nimmt die verfrühte
Weihnachtsstimmung ironisch aufs Korn. Die Ironie kommt in Gestalt einer Badenixe, die im Liegestuhl liegt, hinter ihr der Christbaum. "Oh du fröhliche" ist von "Summer Feeling", der Hit aus der Bacardi-Werbung, abgelöst worden. Ein Verkäufer will der Sonnenanbeterin Sunglasses und Lebkuchen verkaufen. Die Tagesschau berichtet von dem Kampf der Lebensmittelbranche um die beste Marketingstrategie zum Verkauf von Weihnachtsaccessoires im September. Das löst in den Kirchenbänken Gelächter aus. Als Kuschel zur offenen Phase einlädt, wissen die Besucher, dass sie es sind, die etwas aus dem Gottesdienst ziehen können. Sie haben Zeit, umher zu laufen, sich Gedanken zu machen, wie man sich auf « Weihnachten » vorbereiten will. Es gibt Zeitgutscheine zu
verschenken, Zeit zum Meditieren. Das Mädchen schaukelt mit den Beinen, die viel zu kurz sind, um bis zum Boden zu reichen. Dann steht es mit seiner Mutter an, um Gerüche zu erraten. Jede Jahreszeit hat ihren Duft, am Hintereingang können die Besucher ihre Nasen testen. Eine Frau findet, das Geschiebe im Mittelgang ist "wie auf dem Weihnachtsmarkt". Ein Junge nutzt die Gelegenheit, Kuschel zu fragen, ob er am Mittwoch eine Ex schreibt. Und Kuschel unterhält sich mit einer alten Frau, die im Rollstuhl sitzt. Er
lässt dem Gottesdienst seinen Lauf, ohne den Überblick zu verlieren. Er habe noch nie auf die Uhr geschaut, um zu sehen, wie lange die offene Phase dauert. Sie gehört zu den Take- Off-Gottesdiensten dazu. Der Weihnachtsbaum hat sich innerhalb einer knappen halben Stunde in einen Wunschbaum verwandelt, viele Zettel flattern über der warmen Luft der Kerzen vor dem
Altar. Ein Kind wünscht sich, dass Papa zurückkommt, ein anderes, dass sich die Eltern nicht trennen. Jemand sehnt sich nach Freunden. Die Kameras neben dem Altar sind verschwunden, niemand läuft mehr umher und filmt. "Ich wünsche dir Zeit" singt die Band Living Colours. Der Gottesdienst gibt lediglich Impulse. Lässt Raum, sich mit dem Thema auseinander zu setzen.
Und das beschäftigt offenbar viele, sagt Kuschel. In sechs Jahren gestalteten junge Menschen 27 Take-off-Gottesdienste. Nie musste er Plätze reservieren, Interviews geben. Diesmal haben die zwölf Menschen zwischen 14 und 26 Jahren einen Nerv getroffen. Der Gruppe geht es um mehr als « Weihnachten ». Können wir warten? Muss alles sofort und immer gehen? Es geht um
Vorfreude und darum, sie auszuhalten. Es geht um den Umgang mit unserer Zeit, darum, wie Konsum uns beherrscht. Bei Glühwein und Spekulatius stehen später Familien zusammen, Kinder tollen umher. Die Stimmung ist gelöst, friedlich. Wie an Weihnachten. Und auch wieder nicht.
Autor: Von unserem Redaktionsmitglied Melanie Walter
Mit freundlicher Genehmigung der Mainpost.
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