Hexenglaube bei Martin Luther

aus aktuellem Anlass stelle ich meine alte Proseminararbeit hier unbearbeitet online. Leider war es mir nicht möglich, die zahlreichen Anmerkungen hier zu übernehmen.

Proseminararbeit
Hexenglaube bei Martin Luther.
Luthers Predigt über Ex 22,18 aus dem Jahre 1526.

angefertigt für das Proseminar "Hexenglaube und Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit"
bei Petra Seegets-Päge im WiSe 1991/92

Abgabe: 4. September 1992

Inhalt

1. Einleitung    3
2. Historischer Rahmen    3
2.1. Der Text in seiner Zeit    3
2.2. Der Text in der Biographie Luthers    4
2.3. Der Text in seinem Kontext    5
3. Die vorliegende Textfassung    5
4. Gattung und AdressatInnen    6
4.1. Die Wittenberger Gemeindesituation    6
4.2. Luthers Predigtverständnis und Charakteristika seiner  Predigt    6
5. Gliederung    7
5.1. Gliederung durch den Autor    7
5.2. Gliederung aufgrund sprachlicher und inhaltlicher Gesichtspunkte    8
6. Interpretation    9
6.1. Tragende Begriffe und Motive    9
6.2. Traditionsgeschichtliche Analyse    12
6.3. Verankerung der Predigt in der theologischen Gesamtkonzeption Luthers    13
6.4. Intention des Autors    14
6.5. Proprium des Textes im Werk Luthers    14
6.6. Wirkungsgeschichte    15
7. Schluß    16
8. Literaturverzeichnis    17
8.1. Quellen    17
8.2. Hilfsmittel    17
8.3. Sekundärliteratur    17
9. Anmerkungen    19

1. Einleitung

Für viele protestantische Christen ist das Thema "Hexenverfolgungen" recht bequem abzuhandeln: "Das waren doch nur die Katholiken! Wir haben damit nichts zu tun." Doch diese Einstellung kann bei näherem Betrachten nicht aufrechterhalten werden: Auch die jungen protestantischen Kirchen beteiligten sich am allgemeinen Hexenwahn der damaligen Zeit. Um so wichtiger erscheint es, die Meinung Luthers zu diesem Thema eingehend zu untersuchen und darzustellen. Besonders geeignet erscheint dafür seine Predigt über Ex 22,18: "Eine Zauberin sollst du nicht am Leben lassen", in der er sich ausführlich mit diesem Thema auseinandersetzt.


2. Historischer Rahmen

2.1. Der Text in seiner Zeit

Zur Zeit Martin Luthers war die Existenz von Hexen mehr oder weniger allgemein anerkannt; der damals sehr lebendige Volksaberglaube, der früher von der Kirche bekämpft worden war, hatte Einzug auch in die Theologie der Zeit gehalten. Die Hexenlehre, die mit ihren vier Bestandteilen (Teufelspakt, sexueller Umgang mit dem Teufel, Schadenzauber und gemeinschaftlicher Teufelstanz) in der Folgezeit die Grundlage der Hexenverfolgungen bildete, war seit ca. 1430 ausgereift. Sie hatte durch den seit 1487 in zahlreichen Auflagen erscheinenden "malleus maleficarum" des Dominikaners Heinrich Institoris Verbreitung in der lateinisch gebildeten Oberschicht gefunden. Um das Jahr 1526, in dem Martin Luther über Ex 22,18 predigte, scheint diese Lehre allerdings noch nicht allgemein akzeptiert gewesen zu sein. So wurde der "malleus maleficarum" nach der 13. Auflage von 1520 erst im Jahr 1580 in Deutschland wieder gedruckt. Auch die großen Verfolgungswellen begannen erst rund 50 Jahre nach dieser Predigt. Sie fanden etwa in den Jahren 1585-1595, 1630 und 1655-1665 statt. Allerdings gab es durchaus auch zur Zeit Luthers Hexenverbrennungen; es handelte sich hierbei aber meist um Einzelprozesse im Gegensatz zu den späteren lawinenartigen Massenprozessen.


2.2. Der Text in der Biographie Luthers

Luther war zum Zeitpunkt dieser Predigt 42 Jahre alt. Bereits als Kind in Mansfeld war er mit einem lebendigen Hexen- und Aberglauben in Berührung gekommen; seine Eltern redeten wie selbstverständlich von Zauberei, wenn z.B. ein Kind verstarb oder ein Unglück im Bergwerk des Vaters geschah. In dieser Zeit wird er wohl auch viel "Wissen" über Zauberbräuche gesammelt haben. Allerdings bezweifelt Haustein, daß diese Kindheitserlebnisse einen wesentlichen Einfluß auf Luthers spätere Einstellung zum Hexenglauben hatten. Dagegen meint Obendiek: "Den heftigen Teufelsglauben seiner Kindheit hat Luther zeitlebens nicht aufgegeben; in dieser Beziehung blieb er ein mittelalterlicher Mensch."
Luther hatte sich schon mehrfach zum Thema Hexerei geäußert, so z.B. in der Erklärung des Dekalogs, die 1518 erschien. Jedoch hat er erst in der vorliegenden Predigt im Jahr 1526 dazu aufgefordert, die Hexen zu bestrafen; bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich darauf beschränkt, ihre Taten zu beschreiben.
Gemeinde und Prediger waren einander gut bekannt. Abgesehen von der Zeit, die Luther auf der Wartburg zugebracht hatte, lebte er bereits seit 1511 in Wittenberg. Vermutlich 1514 war er vom Rat der Stadt zum Prediger an der Stadtkirche bestellt worden. Als Doktor der Theologie predigte er neben seinen Vorlesungen an der Universität oft an Stelle des Wittenberger Pfarrers Bugenhagen. 


2.3. Der Text in seinem Kontext

Luther predigte über Ex 22,18 im Rahmen einer Predigtreihe über das Buch Exodus, die er bereits im Oktober 1524 begonnen hatte und noch bis 1527 fortführte. Dem fortlaufenden Charakter dieser Predigten ist es wohl zuzuschreiben, daß die Auslegung von Ex 22,18 in zwei Teile geteilt ist, von denen der erste den Schluß einer Predigt darstellt, die zwischen 11. März und 29. April 1526 gehalten wurde, während der zweite Teil am Anfang der nächsten Predigt steht, die zwischen dem 18. März und dem 6. Mai gehalten wurde. Da es sich beim zweiten Teil um die Fortsetzung des ersten handelt, wird der gesamte Text im folgenden als zusammengehörige Einheit betrachtet.
Der Text steht - entsprechend der Gliederung des Exodusbuches - nach der Auslegung einer Reihe von Rechtsordnungen, die sich an den Dekalog anschließen, am Beginn eines Abschnittes über todeswürdige Vergehen.


3. Die vorliegende Textfassung

Luther hat diese Predigt in Wittenberg vermutlich in deutscher Sprache gehalten. Sie wurde von Bugenhagen auf Lateinisch mitgeschrieben und wohl leicht bearbeitet. Man kann jedoch davon ausgehen, daß die Mitschrift sich trotzdem weitgehend am Wortlaut der originalen Predigt orientiert.
Die textkritischen Angaben der WA ergeben keine Sinnänderungen; da eine wortwörtliche Rekonstruktion der Predigt aus obengenannten Gründen nicht möglich ist, kann man auch diese Angaben unberücksichtigt lassen. Schwierigkeiten bereitet einzig das Wort "marescat" (551,36), da "maresco" in keinem der herangezogenen Wörterbücher aufgeführt ist. Vermutlich handelt es sich um einen Schreib- oder Druckfehler statt "marcescat".


4. Gattung und AdressatInnen

Es handelt sich beim vorliegenden Text eindeutig um eine Predigt. Da jede Predigt, zumindest bei Luther, abhängig ist von der Situation der Zuhörer, soll in diesem Abschnitt zunächst der Schwerpunkt auf die Wittenberger Gemeinde gelegt werden und anschließend Luthers Predigtverständnis und die sich daraus ergebenden formalen Aspekte beschrieben werden.


4.1. Die Wittenberger Gemeindesituation

Man kann davon ausgehen, daß in Wittenberg, wie in den meisten Gemeinden, ein buntes Gemisch von Zuhörern unter der Kanzel saß, sowohl hinsichtlich des Alters als auch der sozialen Abstammung. Da Wittenberg Universitätsstadt war, dürften unter den Gottesdienstbesuchern auch etliche Studenten gewesen sein. Gottesdienstbesuch war zu dieser Zeit noch allgemein üblich, so daß Luther auch mit allen Abstufungen der Kirchenzugehörigkeit zu rechnen hatte.
Im Zusammenhang mit der vorliegenden Predigt ist wichtig, daß auch in Wittenberg ein lebendiger Volksaberglaube verbreitet war, in dem, so Werdermann, "Luther zum Teil selbst auch noch befangen [war]".


4.2. Luthers Predigtverständnis und Charakteristika seiner  Predigt

Luther machte "die Kanzel zum Katheder für das Volk" und umgekehrt; die Grenze zwischen Vorlesung und Predigt ist fließend. Eine Predigt sollte, neben der Verkündigung des Evangeliums, vor allem auch "lehren und ermahnen". Die Predigt sollte die Hörer in ihrer Situation erreichen und ansprechen, sie dazu bewegen und erziehen, Konsequenzen aus dem Gehörten zu ziehen. Dazu war es notwendig, daß sich Luther auch in der Sprache seinen Zuhörern anpaßte. Er selbst meint: "Einfältig zu predigen ist eine große Kunst. Christus tut's selber; er redet allein vom Ackerwerk, vom Senfkorn, und gebraucht eitel grobe Vergleiche." Danach richtet sich auch Luther; er nimmt die Sprache des Volkes auf, gebraucht Redensarten und Sprichwörter und macht seine Predigten durch Verwendung von Bildern und Beispielen aus dem Alltag seiner Gemeinde anschaulicher. Dazu ist die Predigt meist rhetorisch sehr gut durchdacht und steckt voller z.T. versteckter Anspielungen auf Bibelstellen oder den Zuhörern aus ihrer Umgebung Bekanntes. 
Luther nimmt die Hörer in ihrer wirklichen Lebenssituation wahr und sieht sie als Christen, die alles andere als perfekt sind und die immer wieder Beratung, Belehrung und Erbauung nötig haben. Der Prediger selbst ist davon nicht ausgeschlossen; auch er ist fehlbar und bedarf der Kontrolle durch die Zuhörer. Obwohl für Luther das Predigtamt das höchste Amt in der Kirche ist, bleibt der Prediger für Luther ein normales Glied der Gemeinde, das sich durch nichts hervorhebt. Er selbst erschrickt oft vor der großen Verantwortung, die er als Prediger vor der Gemeinde hat.
Bei den meisten Predigten Luthers fehlen Anrede, Einleitungs- und Schlußsätze. Dies kann jedoch unter Umständen auf die Mitschreiber zurückzuführen sein, die diese Bestandteile der Predigt nicht mit aufgezeichnet haben. 


5. Gliederung

5.1. Gliederung durch den Autor

Die Predigt ist in zwei zeitlich getrennte Abschnitte aufgeteilt. Eine feinere Untergliederung ist nur auf sprachlicher bzw. inhaltlicher Ebene zu beobachten. So ergibt sich:
I Beschreibung verschiedener Arten des Schadenzaubers
II Schadenzauber und Macht des Teufels


5.2. Gliederung aufgrund sprachlicher und inhaltlicher Gesichtspunkte

Auf sprachlicher Ebene fällt besonders die mehrfache Verwendung des Wortes "occidantur" auf, das meist zwischen zwei Sinnabschnitten steht. 
Teil I
1. Einleitung
    1.1. kaiserliches Gesetz
    1.2. Eingrenzung auf Frauen
    1.2.1. biblische Begründung: Eva
    1.2.2. volkstümliche Begründung
Zitat: "occidantur"
2. allgemeine Beschreibung der Praktiken
2.1. Beschwörungen
    2.1.1. Inhalt
    2.1.2. Gegenüberstellung der christlichen Gebetspraxis
2.2. Handlungen der Zauberinnen
    2.2.1. Beschreibung
    2.2.2. Folge: Glaube der "Narren"
Forderung: "occidantur"
3. konkrete Beispiele für Schadenzauber
3.1. Diebstahl
3.2. Verhexung von Kindern
3.3. Verletzungen
3.4. äußeres Erscheinungsbild
Folgerung: "occidantur"
4. Gegenüberstellung der Naturheilkräfte
4.1. natürliche Heilmittel
4.2. dämonische Kräfte
    4.2.1. Beispiel: Kräutersegen
4.3. Beispiele für natürliche Heilmittel
    4.3.1. Brennessel
    4.3.2. Wasser
4.4. dämonische Kräfte durch Worte


Teil II
5. Aufzählung verschiedener Arten von Schadenzauber (Anknüpfung an Teil I, 3.)
6. Begrenztheit der Macht Satans
6.1. Unfähigkeit Satans, etwas zu erschaffen
6.2. Folge: Zerstörungswut
6.3. Machtlosigkeit Satans bei guten Christen
Forderung: "occidantur"
7. Begründung
8. Zweifel an der Realität der Hexen
8.1. Gegenargumentation
    8.1.1. gelegentliche Erlaubnis Gottes
    8.1.2. Beispiel aus Bekanntenkreis Luthers
8.2. Folgerung: nicht mit Verachtung, sondern mit dem Schwert
Forderung: "occidantur"
9. Begründung
9.1. Schaden
9.2. Umgang mit Satan


6. Interpretation

6.1. Tragende Begriffe und Motive

Besonders auffällig ist der ausschließliche Bezug auf Frauen. Luther sieht offensichtlich nur Frauen mit der Zauberei im Zusammenhang. Zur Beschreibung der "Zauberinnen" bedient er sich des Begriffs "maga", entgegen dem Vulgatatext, der "maleficos" verwendet. Nach Haustein könnte diese Begriffsänderung daherrühren, daß Luther Zauberei nicht auf Schadenzauber einschränken wollte, sondern auch andere Praktiken , wie z.B. Liebeszauber und Heilzauber, einbezog, so daß der Begriff "maga" eher seiner Intention entsprach. 
Während die Vulgata, wie erwähnt, von "maleficos" spricht und die Septuaginta "pharmakous" hat, beide also einen maskulinen Terminus im Plural verwenden, hat der masoretische Text hpscm, also Femininum Singular. Offenbar bezieht sich Luther auf diesen Text. Aber auch im von Luther zitierten "ius Cesareum" werden - entgegen seiner Behauptung! - maskuline Begriffe verwendet, v.a. "magus" und "maleficus". Die Verwendung des femininen Begriffs "maga" scheint also nicht so sehr von der Verwendung des hebräischen Urtextes herzurühren, sondern vielmehr von einer generell tendentiellen Sichtweise Luthers. Auf das "ius Cesareum" greift er vermutlich zurück, um aufzuzeigen, daß die Bestrafung von Hexen auch im Naturrecht verankert ist, da das ius Cesareum auf alten, z.T. römischen Gesetzestexten basierte.
Was Luther unter "maga" versteht, entfaltet er ausführlich in seiner Predigt: Es sind dies Frauen, die sich jeglicher Form von Zauberei oder abergläubischer Praktiken bedienen, also eben nicht nur Schadenzauber, sondern auch Heilzauber und Beschwörungen, die sogenannte "Weiße Magie". Dieses Bild einer Hexe ist jedoch weit entfernt von dem der systematischen Hexenlehre des Heinrich Institoris, die von Teufelspakt, Teufelsbuhlschaft, Schadenzauber und Hexensabbat ausgeht. Luther kennt alle diese Elemente, doch ist für ihn nur der Schadenzauber relevant; Hexenflug und Hexensabbat lehnt er ganz ab. 
Die magischen Elemente, die Luther erwähnt, sind fest im Volksaberglauben verankert. So war der Frosch z.B. in ganz besonderer Weise ein "Teufels- u. Hexentier". Er war allgemein das Zeichen eines Zaubers, konnte Glück bringen, aber auch sogar den Tod. Er wurde für Orakel und verschiedene Formen des Zaubers verwendet.
Ähnlich Knochen und Haare: Als Bestandteilen des Körpers wohnte ihnen besondere Kraft inne. Eine Hexe konnte einem anderen Menschen Haare, Kohlen und andere Gegenstände einstoßen oder "schießen" (daher der "Hexenschuß"), so daß die Wunde nicht mehr heilen konnte, bis die Dinge entfernt waren. (Vgl. 551,26-28 und 552,5.) Da auch abgeschnittene Haare noch zum Körper gehörten, konnte man nicht gesund werden, wenn eine Hexe Haare vergraben hatte. (Vgl. 551,26-28.)
Milch, und Butter waren ebenfalls sehr "anfällig" für Zauberei. Milch mußte auf verschiedenste Weise vor bösen Blicken, Verwünschungen usw. geschützt werden. Die Vorstellung, daß eine Hexe mit Hilfe eines beliebigen Gegenstandes (oft Tücher oder Tisch- bzw. Stuhlbeine) die Kühe der Umgebung aus der Ferne melken konnte, so daß sie keine Milch mehr hatten, war weit verbreitet. Dabei betrog auch der Teufel die Hexe, da er die Milch persönlich zum gemolkenen Gegenstand transportierte, während die Hexe der Meinung war, es sei ihr eigenes Werk. (Vgl. 551,31-34) Ähnliches galt auch für Butter, die die Hexen ebenfalls stehlen oder verhexen konnten.
Alle diese Vorstellungen dürften der Gemeinde zum größten Teil bekannt gewesen sein, so daß Luther wirklich in die Situation seiner ZuhörerInnen predigte. Diese Situationsbezogenheit wurde durch Verwendung einer Redensart (552,6) und Beispiele vom Ort (552,16-17) weiter verstärkt.
Mit den Bezeichnungen für magische Erscheinungen ging Luther offenbar sehr frei um. So steht für ihn das hebräische Nus (Widersacher) gleichberechtigt neben dem griechischen diabolos (Verleumder) als Bezeichnung für den Teufel. Allerdings übersetzte auch die LXX Nush mit diabolos, vgl. Hi 2,1; Sach 3,1f. u.ö.
Wie der Begriff "superstitio" (551,20) zu verstehen ist, ist nicht ganz klar. Haustein weist darauf hin, daß die Satzkonstruktion schon zwei verschiedene Übersetzungen zuläßt: "durch Superstitionen dem Satan verfallen" oder "den Superstitionen des Satans". Nach Harmening reicht das Bedeutungsspektrum des Wortes von "jede nicht christliche Religion", also ein Gegensatz zum christlichen Glauben, bis zu "Aberglaube, der über die `wahre Religion` hinausgeht", also eine Art Ergänzung des offiziellen Glaubens. Luther scheint noch nicht von einer eigenen Hexensekte ausgegangen zu sein, so daß die Übersetzung "durch abergläubische Handlungen dem Satan verfallen" am zutreffendsten sein dürfte. 


6.2. Traditionsgeschichtliche Analyse

Die Härte, mit der Luther hier gegen die Hexen predigt, erschreckt. Wie kommt er zu einem so rigorosen Urteil? Was bringt ihn zu seinem fünfmaligen "occidantur"?
Zunächst ist hier der Einfluß zu nennen, den die Eindrücke seiner Kindheit sicher bei ihm hinterlassen haben. Folgt man seinen eigenen Ausführungen, so hat er mehrfach persönlich Zauberei oder das persönliche Wirken des Teufels erlebt, so daß er in seiner Auffassung immer wieder bekräftigt wurde. Dazu kam, daß sich Luther auch von der Bibel bestätigt fühlte, die immer wieder von Dämonen, Dämonenaustreibungen, Hexen u.ä. berichtet. So sah Luther sich in eine Welt gestellt, die voll war von bösen Geistern, die die Menschen zum Bösen verführten und selbst Böses vollbrachten.
Luther steht dabei ganz unter dem Einfluß des "de civitate dei" von Augustinus (354-430), der nicht nur für die damalige Zeit prägend war, sondern bis in unsere Zeit hineinwirkt. Augustinus stellt darin einen Gottesstaat, die "civitas dei", einem Teufelsstaat, der "civitas terrena" oder "civitas diaboli" gegenüber. Die "guten" Menschen und Engel sind Bürger des Gottesstaates und damit der Leib Christi. Sie stehen im Kampf mit den Bürgern des Teufelsstaates, die parallel dazu als "Leib des Teufels" bezeichnet werden. Bei den Dämonen handelt es sich um ursprünglich gute Engel, die von Gott abgefallen sind. Sie wissen, daß sie verdammt sind, und versuchen aus Neid und Bosheit, möglichst viele Menschen mit sich zu ziehen und von Gott abzubringen. Die Menschen, die sich mit ihnen und mit dem Teufel einlassen, schließen mit diesen eine Art Vertrag oder eine Abmachung (pactum), die durchaus "mit rechtlichen Beziehungen vergleichbar" ist. Dieser Pakt äußert sich dann in diversen abergläubischen Praktiken. Da diese Menschen nun also ihre Hilfe vom Teufel erwarten und nicht von Gott, verstoßen sie gegen den Monotheismus und sind daher zu verfolgen und zu bestrafen. Dazu kommt die ständige Bedrohung der civitas dei durch die civitas diaboli. Die civitas dei muß sich vor Angriffen der civitas diaboli schützen und tut das, indem sie deren "Mitglieder" verfolgt: "Occidantur." Eine andere Möglichkeit gibt es offenbar nicht. Ein Nebeneinander der beiden civitates, ein Kompromiß ist unmöglich. Es bleibt Luther daher gar nichts anderes übrig, als auf der Todesstrafe zu bestehen. 
Da der Predigttext Ex 22,18 aber zu den Teilen des Alten Testaments gehört, die nach Luther für Christen nicht verbindlich sind, bemüht er auch des kaiserliche Gesetz, das z.T. noch auf römischen, also heidnischen Vorlagen beruht, um zu zeigen, daß diese Forderung nach Tötung der Hexen im allen Menschen zugänglichen Naturgesetz verankert ist. Damit wird dann auch diese Vorschrift aus "der Juden Sachsenspiegel" für Christen, wie für alle Menschen, wieder verbindlich. 

6.3. Verankerung der Predigt in der theologischen Gesamtkonzeption Luthers

Welchen theologischen Stellenwert hatten nun Zauberei, Hexen- und Teufelsglaube für Martin Luther? Daß es Hexen gab, war für ihn, wie wohl für fast alle seiner Zeitgenossen, ein selbstverständliches Faktum, zumal sie ja auch in der Bibel gelegentlich Erwähnung fanden. Während die Beschreibungen der Erscheinungsformen von Hexerei (z.B. Schadenzauber, Milchdiebstahl u.ä.) relativ unreflektiert aus der Volksfrömmigkeit übernommen zu sein scheinen, ist Luthers Hexenbild als solches doch recht deutlich umrissen: Es handelt sich dabei um Menschen, vorwiegend Frauen, die sich besonderer Praktiken bedienen, die außerhalb des biblischen Rahmens liegen und daher nicht Gottes Willen entsprechen. Diese Menschen vertrauen nicht auf Gottes Hilfe, sondern verbünden sich mit anderen Mächten, Dämonen oder Teufeln, um ihr Ziel zu erreichen. Diese Dämonenwelt, die civitas diaboli des Augustinus, hat in Luthers theologischer Gesamtkonzeption einen hohen Stellenwert. Sie hat ihren festen Platz in der Theodizeefrage, damit überhaupt in der Gotteslehre und in anderen zentralen Punkten. Immer wieder verweist Luther, wie in der vorliegenden Predigt, auf die Wichtigkeit religiös verantwortungsvollen Lebens, um der ständigen Gefahr und Bedrohung durch Teufel und Dämonen begegnen zu können.

6.4. Intention des Autors

Luther wollte mit dieser Predigt keineswegs die Stimmung gegen Hexen aufheizen und Hexenprozesse in Gang bringen. Ihm ging es um etwas ganz anderes. Er wollte vor allem seiner verunsicherten Gemeinde Beistand leisten und sie im Glauben stärken. Um sie vor dem Abfall von Gott zu warnen, stellte er die Praktiken der "Hexen", die Folgen für die Umwelt (Schäden, Haß, Krankheiten, Unwetter...) und für sie selbst ("occidantur") möglichst plastisch und eindringlich dar. (Vgl. auch das Predigtverständnis, 4.2.) Dabei vergaß er aber auch nicht, den guten Christen Mut und Gottes Beistand zuzusprechen: "Ubi vero boni Christiani sunt, non potest in illos ut in infideles..." (552,11f.) Sie sollen eben nicht nur "gladio", sondern auch "firma fide" (552,22) gegen die civitas diaboli kämpfen.


6.5. Proprium des Textes im Werk Luthers

Ein Vergleich mit früheren Werken Luthers zeigt, daß die meisten Bestandteile seines Hexenbildes in dieser Predigt nicht neu sind. Schon immer war er davon überzeugt, daß Hexen Schaden anrichten. So erzählt er ja bereits von Erlebnissen aus seiner Kindheit, wo Menschen nach allgemeiner Überzeugung durch Zauberei zu Schaden gekommen sein sollen. Auch in seiner Schrift "Decem praecepta...", der Auslegung der 10 Gebote von 1518, widmet er einen ganzen Abschnitt der Schadenszauberei: "Primo. Maleficiis possunt oculos laedere et excecare, corpora infirmare, sagittare crura, imaginibus devovere, et prout libet vel occidere vel lenta et incurabili plaga tandem cosumere, ut vidi plures talia passos."
Der Gedanke vom Teufelspakt, kommt, wie auch in der Predigt, gelegentlich und eher andeutungsweise vor, so z.B. ebenfalls in "Decem praecepta": "Aliquae, ut diabolum inveniant, Ecclesiam circumeunt versis vestigiis et contra quam solitum est fieri, Et invento illis obvio sese tradunt ei in pactum."
Neu dagegen ist in dieser Predigt die strikte Forderung nach der Todesstrafe für Hexen - "occidantur". Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Luther sich darauf beschränkt, eine Exkommunikation anzudrohen. Haustein verweist auf Luthers Vorlesung über die zwölf Propheten, aus den Jahren 1524ff., wo Luther noch nichts von einer Todesstrafe erwähnt: "Venefici et malefici abutuntur verbo dei, ideo excludentur."
Von der strikten Forderung nach der Todesstrafe rückt er jedoch in späteren Jahren nicht mehr ab. Der Hauptgrund ist für ihn die Lästerung gegen Gott: "wo man sie [die Hexe, Anm. d. Verf.] kriegt, mit feur verbrennet, wie recht ist, nicht umb des milchdiebstals, sondern umb der lesterung willen, das sie wider Christum den Teuffel mit seinen Sacramenten und Kirchen stercket"


6.6. Wirkungsgeschichte

Für diese einzelne Predigt ist eine Wirkungsgeschichte nicht erkennbar. Dadurch jedoch, daß Luther vom Zeitpunkt dieser Predigt an an der Forderung nach Bestrafung von Hexen festhielt, prägte er auch die Vorgehensweise seiner Anhänger und Nachfolger, die sich oft auf ihn beriefen. "Luther wurde nicht zitiert, weil er originell oder programmatisch über Hexen schrieb, sondern weil er die protestantische Autorität war." Zwar wurde gerade die vorliegende Predigt nie gedruckt, doch blieb ja Luthers neue Einstellung bezüglich der Verfolgung und Bestrafung von Hexen auch in späteren Werken erhalten. Paulus verweist auf verschiedene lutherische Theologen, die sich bei Hexenpredigten auf Luther beriefen, z.B. David Meder, der 1605 eine Sammlung solcher Hexenpredigten herausgab. Noch zu Luthers Lebzeiten, im Jahre 1540, fanden in Wittenberg die ersten Hexenverbrennungen statt. 
Haustein gibt dagegen zu bedenken, daß gerade bei Luther auch kritische Gedanken zu finden sind, daß er vor allem die Gedanken von Teufelsbuhlschaft und Hexenflug weitgehend ablehnt und so auch zur Überwindung des Hexenwahns beigetragen hat. Er führt als Gegenbeispiel Johann Georg Gödelmann (1591) an, der Gegner der Hexenprozesse war und sich in seiner Argumentation ebenfalls auf Luther beruft. So stützten sich sowohl Gegner als auch Befürworter der Hexenprozesse in ihrer Argumentation auf Luther.


7. Schluß

Luther glaubte an Hexen, an die Realität ihrer Zaubereien und der daraus entstandenen Schäden: Daran besteht kein Zweifel. Auch daß Luther mit aller Härte gegen derartige Praktiken vorzugehen gedachte, wurde deutlich, jedoch ist dies aus seiner theologischen Grundkonzeption der zwei Staaten zu erklären. Es bleibt aber die Frage, warum Luther in diesem Punkt Zeit seines Lebens in mittelalterlichen Vorstellungen verhaftet blieb. 
Doch selbst in unserer Zeit ist der Glaube an Dämonen und Hexen weiter vorhanden, wie das Dokument "Christlicher Glaube und Dämonenlehre" der römischen Kongregation für die Glaubenslehre von 1975 zeigt. Die Formen mögen sich verändert haben - in jeder Zeitschrift kann man sein Horoskop lesen, in vielen okkultistischen Gruppen wird heute "Kontakt" mit Geistern aufgenommen, Menschen übergeben ihr Leben dem Teufel. 
Hat sich denn etwas Wesentliches geändert? Ist nicht eher das gesamte, "aufgeklärte" Abendland in diesem Punkt nie über das Mittelalter hinausgekommen? Vielleicht hätte Luther in unserer Zeit noch viel mehr Anlaß, gegen Aberglauben und okkulte Praktiken zu wettern und gegen sie zu kämpfen.

8. Literaturverzeichnis

8.1. Quellen

Biblia Hebraica Stuttgartensia: Hg. v. K. Elliger und W. Rudolph, 41990
Codex iuris civilis VolII, Codex Iustiniani IX,18,9: "De maleficis et mathematicis et ceteris similibus", Berolini 1888
Luther, Martin: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff.
Septuaginta. Id est Vetus Testamentum Graece iuxta LXX interpretes, hg. v. Alfred Rahlfs, Stuttgart 1935
Vulgata. Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, hg. v. Robert Weber, Stuttgart 1969


8.2. Hilfsmittel

Bayer, Karl und Lindauer, Josef: Lateinische Grammatik. Auf der Grundlage der Lateinischen Schulgrammatik von Landgraf-Leitschuh, München 1974
Bibel, die: Nach der Übersetzung Martin Luthers, hg. v. Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart, 1985
Gesenius, Wilhelm u.a.: Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, 171915 (Neudruck Berlin-Göttingen-Heidelberg 1962)
Pertsch, Erich: Langenscheidts Handwörterbuch Lateinisch - Deutsch, Berlin 1987
Sleumer, Alfred: Kirchenlateinisches Wörterbuch, Limburg 1926


8.3. Sekundärliteratur

Bächtold-Stäubli, Hanns: Art. "Frosch" in: HWDA Bd. III, Berlin-Leipzig 1930/31, Sp. 124-142
Bächtold-Stäubli, Hanns: Art. "Haar" in: HWDA Bd. III, Berlin-Leipzig 1930/31, Sp. 1239-1288
Bächtold-Stäubli, Hanns: Art. "Knochen" in: HWDA Bd. V, Berlin-Leipzig 1932/33, Sp. 6-13
Brecht, Martin: Art. "Luther I. Leben", in: TRE, Bd. 21, S. 514-530, Berlin-New York 1991, S. 514-530
Brecht, Martin: Martin Luther. Zweiter Band: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521-1532, Stuttgart 1986
Eckstein, F.: Art. "Butter" in: HWDA Bd. I, Berlin-Leipzig 1927, Sp. 1723-1764
Eckstein, F.: Art. "Milchhexe" in: HWDA Bd. VI, Berlin-Leipzig 1934/35, Sp. 293-352
Emme, Dietrich: Martin Luther - Seine Jugend- und Studentenzeit 1483-1505. Eine dokumentarische Darstellung mit 10 Tafeln und 1 Faltkarte, Bonn 31983
Friedenthal, Richard: Luther. Sein Leben und seine Zeit, München 1967
Götz, Roland: Der Dämonenpakt bei Augustin. Sein Hintergrund in der spätantiken Dämonologie und seine Auswirkungen auf die "wissenschaftliche" Begründung des Hexenglaubens im Mittelalter, in: Teufelsglaube und Hexenprozesse, hg. v. Georg Schwaiger, München 1987, S. 57-84
Hansen, Joseph: Der Hexenhammer, seine Bedeutung und die gefälschte Kölner Approbation vom Jahre 1487, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst, Bd. 26, S. 374-379, 1907
Harmening, Dieter: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters, Berlin 1979
Haustein, Jörg: Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen, Stuttgart 1990 (= Münchener Kirchenhistorische Studien Bd. 2)
Klingner, Erich: Luther und der deutsche Volksaberglaube, Berlin 1912 (= Palaestra LVI)
Loewenich, Walther von: Martin Luther. Der Mensch und das Werk, München 1982
Obendiek, Harmannus: Der Teufel bei Martin Luther. Eine theologische Untersuchung, Berlin 1937
Oberman, Heiko: Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982

Otto, Gert: Auf der Kanzel, in: Schultz, Hans-Jürgen: Luther kontrovers, Stuttgart-Berlin 1983, S. 136-145
Paulus, Nikolaus: Luther als Beförderer der Hexenprozesse, in: ders.: Hexenwahn und Hexenprozeß im 16. Jahrhundert, S. 48-66, Freiburg im Breisgau 1910
Paulus, Nikolaus: Luthers Stellung zur Hexenfrage, in: ders.: Hexenwahn und Hexenprozeß im 16. Jahrhundert, S. 20-47, Freiburg im Breisgau 1910
Schormann, Gerhard: Art. "Hexen", in: TRE, Bd. 15, S. 297-304, Berlin-New York 1986
Schormann, Gerhard: Hexenprozesse in Deutschland, Göttingen 21986
Segl, Peter: Heinrich Institoris. Persönlichkeit und literarisches Werk, in: ders. (Hg.): Der Hexenhammer. Entstehung und Umfeld des Malleus maleficarum von 1487, Köln-Wien 1988, S. 103-126
Werdermann, Hermann: Luthers Wittenberger Gemeinde wiederhergestellt aus seinen Predigten, Gütersloh 1929
Zschäbitz, Gerhard: Martin Luther. Größe und Grenze. Teil 1 (1483-1526), Berlin 1967